Worauf der Nestor der Sexualpädagogik
noch neugierig ist...
Uwe Sielert ist Mitbegründer des Instituts für Sexualpädagogik, Pädagogikprofessor in Kiel und der aktuelle »Sexualpädagogikpapst« im deutschsprachigen Raum.
Selbstverständlich, dass wir ihn aus Anlass unseres bevorstehenden Jubiläums was gefragt haben. Hier die Fragen und die Antworten.
Was wünschst du der Sexualpädagogik für ihre weitere Entwicklung – quasi als Pate gesprochen?
In der Einleitung zum »Handbuch Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung« hat Renate-Berenike Schmidt einen biografischen Vergleich gewählt: Sexualpädagogik als Profession und als wissenschaftliche Disziplin habe Kindheit und frühe Jugend - von einzelnen postpubertären Spätfolgen abgesehen - hinter sich gelassen und beginne, sich in der Erwachsenenwelt einzurichten. Und das in doppeltem Sinne: Zum einen sei ihre Bedeutung gewachsen, zum anderen kümmere sie sich auch nicht mehr nur um Kinder und Jugendliche.
Ich würde mich freuen, wenn sie, die Sexualpädagogik, sich - frei nach Erikson - auf die im Erwachsenenalter drohende Stagnation erst gar nicht einlässt, sondern im Wissenschaftssystem und in der Gesellschaft Eigenschaften behält, die sie heute - zumindest auf Tagungen und im Schrifttum - mit Lady Gaga gemein hat: transgender, erotisch, provokativ, politisch unbequem. Und vor allem: neugierig.
Das Institutsjubiläum 2013 hat als inneres Leitwort »neugierig«.
Worauf im Sexuellen bist du (noch) neugierig – gesellschaftlich und persönlich?
Ein paar mediale Tendenzen fallen mir ein, deren Entwicklung ich nicht vorhersagen kann:
- Führen die vielen Möglichkeiten des Cybersex zu weniger Interesse der Menschen an unmittelbarer »face-to-face«- bzw. »skin-to-skin«-Sexualität oder gerade zu der erhofften Vervielfältigung und Kultivierung?
- Die Grenzen zwischen öffentlich, privat und intim werden durchlässiger. Wird Pornographie in Zukunft verschwinden, weil - wie Michael Schetsche vermutet - ihre Voraussetzung, das sexuelle Geheimnis, wegfällt?
- Wenn Jugendliche mit ihrer Sexualität im Netz experimentieren, führt das zur Kultivierung ihrer individuellen Erlebnisweisen oder zur Vereinheitlichung sexueller Verhaltensmuster (Attraktiv ist das, was Anerkennung verschafft)?
Und was die Sexualpädagogik betrifft:
Wird sie als Profession von der systemtheoretisch beschriebenen Autonomisierung und Ausdifferenzierung des Sexualitätssystems profitieren?
Sexualität hat sich ja schon seit langem von ihrer Fortpflanzungsfunktion gelöst und dieser Prozess setzt sich in unserer hoch ausdifferenzierten Gesellschaft noch weiter fort. Psychosexuelle Erregung und Befriedigung sowie sexuelle Identitäten sind nicht mehr selbstverständlich an Liebe gebunden, gehen ihrerseits alle möglichen (und unmöglichen) Verbindungen mit anderen Systemen ein - Wirtschaft, Recht, Politik, Sport und Medien.
Was tut sich an den Schnittstellen zum Bildungs- und (Erziehungs)wissenschaftssystem? Ist sexuelle Bildung, ist Sexualpädagogik als (Beratungs-)wissenschaft hilfreich und gefragt als Navigationshilfe für Schulen, Soziale Arbeit und Verwaltungen, vor allem aber für die Menschen selbst?
Und worauf ich persönlich neugierig bin? Unter Berücksichtigung meiner eigenen »Generationsgestalt« auf die Antworten auf die Fragen: Gibt es Sex trotz Alter? Und vor allem: Wie? Mit wem? Und, wenn ja, wie lange noch?
Wofür können sich deiner Meinung nach das ISP und alle anderen feiern (lassen),
die sich um die gute alte emanzipatorische Sexualpädagogik verdient gemacht haben?
Sexualpädagogik ist durch das Institut und die von ihm angeregte Gesellschaft für Sexualpädagogik wie auch durch das Engagement anderer Akteure der BZgA, der Fach- und Wohlfahrtsverbände - wie schon gesagt - erwachsen geworden. Vorträge, Veröffentlichungen, Tagungen, Workshops und vor allem die langfristigen Weiterbildungen haben MultiplikatorInnen des emanzipatorischen Gedankenguts in die Lage versetzt, in vielen Einrichtungen bildend und beratend tätig zu werden. Wir haben uns an nichts und niemanden affirmativ angeschmiegelt, weder an den Sexmarkt noch an die sexualpolitischen Wenden je Legislaturperiode oder an die Moden der Glücks- und Wellnessindustrie. Dass wir dieses mühsame Geschäft professioneller Unabhängigkeit durchgehalten haben, war anfangs nicht abzusehen; und mancher Einzelne hat auch aufgegeben.
Glücklicherweise kommen aber letztlich mehr Personen dazu, die sich auf Sexualpädagogik einlassen wollen.
Was im Sexuellen verdient in den kommenden Jahren forschende Neugier?
Bei uns selbst angefangen: Wir wissen wenig über den Stand sexualpädagogischer Professionalität in Deutschland. Anja Henningsen hat das Thema gerade mit einer exzellenten Dissertation theoretisch aufbereitet; empirische Studien müssen folgen.
Für die BZgA habe ich gerade die Situation der Sexualpädagogik an Grundschulen in Schleswig-Holstein beschrieben. Wir wissen aber insgesamt fast nichts darüber, was von den Richtlinien und Lehrplänen der Schulen in Deutschland tatsächlich umgesetzt wird.
Aber auch international sollte mehr geforscht werden: Unser sexualpolitischer und sexualpädagogischer Blick ist bisher sehr westeuropäisch ausgerichtet; wir mussten ja immer die wenigen Ressourcen auf unsere Region konzentrieren. Mit zunehmenden Migrationsbewegungen und medialer Globalisierung werden aber auch die Einflüsse anderer Kulturräume nicht ausbleiben.
Hisao Ikeya, ein japanischer Entwicklungspsychologe, besucht uns jedes Jahr in Kiel, um ein bestimmtes Thema zu diskutieren. Er belegte diesmal mit eindrucksvollen Zahlen das abnehmende Interesse an realem Sex, sogar eine zunehmende Abscheu vor Partnersexualität bei japanischen Jugendlichen. Belegt ist gleichzeitig ihre sexuelle Ahnungslosigkeit, aber auch eine starke Ausrichtung des Selbstbilds und Verhaltens an den pornografisch agierenden Figuren in den Mangas. Was passiert also, wenn hoch entwickelte geschlechtsrollen-konforme Medienberieselung auf sexuell ahnungslose Jugendliche trifft?
Die Internationalisierung des emanzipatorischen sexualpädagogischen Diskurses, wie sie die BZgA für Europa begonnen hat, ist ein wichtiger Beitrag, um auch auf globaler Ebene - und damit auch bei uns - das Errungene zu bewahren.
Glücklicherweise besteht auch eine gewisse Chance, die forschende Neugier von Sexualpädagog_innen zu befeuern: Immerhin werden mit Geldern des BMBF an fünf Hochschulstandorten (Münster, Hamburg, Kiel, Kassel und Merseburg) Juniorprofessuren eingerichtet, die sich anlässlich der sexuellen Gewalt in pädagogischen Institutionen mit Sexualpädagogik beschäftigen können.
Alte, weise Männer werden gerne um leitenden Rat gefragt.
Wovor würdest du Sexualpädagog_innen warnen, wenn sie (zukünftig) ihrem Geschäft nachgehen?
Es gibt unter Sexualpädagog_innen inzwischen beides: Sich entweder mit der Hybris des Trendsetters oder als Holzpenisfraktion schulischer Sexualaufklärung mit einem geknickten Ego zu positionieren. Beides schadet unserem Ansehen und hemmt die Befreundung mit wichtigen gesellschaftlichen Bündnispartner_innen.
Eine andere ungute Paarbeziehung entsteht zwischen jenen, die sich vor allem als Emanzipationshilfe für alle von Exklusion bedrohten Zielgruppen verstehen und anderen, die unversehens als Gefahrenabwehrexpert_innen zum staatlichen Kontrollinstrument werden. Sexualpädagogik braucht zur fortschreitenden Professionalisierung einen Ethikkodex als Schutz vor den historisch belegbaren Versuchen, Sexualität in den Dienst partikulärer Interessengruppen oder des gesellschaftlichen Mainstreams zu stellen.
Sexualpädagog_innen sollten für alle Menschen - welcher Milieuzugehörigkeit auch immer - wie auch für gesellschaftliche Organisationen aus verschiedenen Lagern vertrauenswürdige Ansprechpartner_innen bleiben. Diese intermediäre Position, dieses dritte Mandat, auf das wir uns beziehen können, stützt sich auf die wissenschaftlich fundierten professionellen Maßstäbe, mit denen wir ein selbstbestimmbares, sexuelles Wohlbefinden aller anstreben. Wir agieren damit politisch, ohne explizit politisch zu sein: Vermittelnd und ausbalancierend, aber auch streitend und mahnend.
Sexualität ist immer vielfältig behindert. Welche Behinderungen vor allem sollten abgebaut werden?
Ich bin noch ganz aktuell beeindruckt von dem Workshop „Auch sexuelle Identitäten machen Schule“, den ich beim Bundeskongress „Ganztägig lernen“ in Berlin mitgestalten durfte. Schüler_innen unterschiedlicher sexueller Orientierung haben von Mobbingerfahrungen berichtet, ein Schulleiter von dem tätlichen Angriff homophober Jugendlicher auf einen seiner Lehrer und seiner Hilflosigkeit, damit umzugehen. Breitflächig gesehen mag es ein Luxusthema sein, sich neben der sexuellen Orientierung jetzt auch mit Trans- und Intersexualität zu beschäftigen, aber die Probleme der Selbst- und Fremdannahme brennen den Betroffenen unter den Nägeln und zunehmend mehr wagen sich an die Öffentlichkeit.
Behinderungen gehen nicht immer von den Feinden sexueller Vielfalt aus. Auch die ethisch unverdächtige Verhandlungsmoral kann Sexualität behindern, wenn sie die Sphäre des Unberechenbaren mit Vereinbarungssex knebelt und juristisch exekutiert.
Die Rationalität des Kontraktwesens darf nicht über die Spontaneität und Sinnlichkeit, allenfalls kann sie als Spannungspol neben sie gestellt werden. Andererseits braucht die Verabredung zwischen Menschen, dass ihre Körper tun dürfen, wozu es sie treibt, entwickelte sexuelle Bildung. Es gibt also weiterhin viel zu tun für die sexualpädagogische Community.